Visions of Beauty Im Dialog mit den Künstlern
21. November 2024Visions of Beauty – Im Dialog mit den Künstlern
Zur Preview unserer großen Jubiläumsausstellung Visions of Beauty in der Cadoro – Zentrum für Kunst und Wissenschaft in Mainz-Hechtsheim waren viele der ausgestellten Künstler persönlich anwesend. Die Galeristin und Kunsthistorikerin Dr. Dorothea van der Koelen, die diese gefeierte Schau konzipiert und realisiert hat, ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen, auch die Künstler selbst zu ihren in Visions of Beauty gezeigten Arbeiten zu befragen. Das Ergebnis ist ein unterhaltsamer Rundgang durch das erste Obergeschoss des großzügigen Ausstellungshauses mit überraschenden Einblicken in das Leben und Wirken der Künstler, die ein breites Generationenspektrum abdecken. Die folgenden Künstler kommen im Zuge dieses dialogischen Rundgangs zu Wort:
Der konstruktivistische Maler und Autor Hans Jörg Glattfelder ist einer der herausragendsten Vertreter der konkreten Kunst in der Schweiz. In den 60er Jahren beschäftigte er sich künstlerisch mit anonymen, industriellen Produktionsmethoden (Pyramidenreliefs), später mit der Frage der ›nicht-euklidischen Geometrie‹ zur Erzeugung von konkreten Kunstwerken (»nicht-euklidische Metaphern«). In seinen Schriften plädiert er für eine sich rational konstituierende Kunst (›Meta-Rationalismus‹) und für einen interdisziplinären Austausch zwischen Wissenschaft und Kunst (›methodischer Konstruktivismus‹). Dorothea van der Koelen zeigt vier Arbeiten des Schweizer Künstlers, darunter zwei kleine historische Meisterwerke Pyramiden-Relief mir 7 (Relief, Lack auf Kunststoff, 1968), Elfer-Stab (Acryl auf Leinwand über Holz, 1975).
Die Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Uecker-Schüler Mario Reis datiert zurück in das Jahr 1985, als Dorothea van der Koelen in ihrer Bretzenheimer Galerie die ersten ›Naturaquarelle‹ des Künstlers präsentierte: Baumwolltücher, die in fließende Gewässer gelegt das Wesen des Wassers abbilden. Das 45. Jubiläum der Galerie feiert Reis heute mit seiner bunten, verspielten Werkserie »Hommage au Champagne«. Die Struktur der gegenstandlosen, leicht und fröhlich wirkenden Kompositionen entwickelt sich aus der unpräzisen runden Form eines Champagner-Korkens, die mit Farbe auf der Papierfläche aufgetragen wird – wie ein Stempel.
Der Punkt dient dem konstruktiv-konkreten Künstler Reinhard Roy als Gestaltungsmittel zur Darstellung räumlicher Wirkungen auf der Fläche. Diese erzielt er mittels einer Rasterschablone. Durch mehrfach aufgetragene, sich überlagernde Punktraster entsteht unter Verwendung einer differenzierten Farbenpalette und Hell- und Dunkeltönen auf der Leinwand ein beeindruckendes Flimmern. In der Ausstellung zeigt er das 15-teilige raumgreifende und bunte Werk Linie Dorothea (Mischtechnik auf Leinwand, je 60 x 60 cm).
Der aus Kiel stammende Künstler Wulf Kirschner hat sich der Unendlichkeit der Linie verschrieben, sie ist sein Gestaltungselement par excellence. Sein Hauptwerkstoff ist der Schiffsbaustahl. Mit seinen ebenen Reliefs erzielt er eine dreidimensionale Wirkung, die sich durch die Technik der Schweißspurenbilder und durch die daraus entstehenden Farben ins Malerische weiterentwickeln lässt. Je nachdem welches Material der Künstler verwendet, können seine Bilder und Skulpturen eine farbig schillernde Oberfläche (z.B. bei Chromnickelstahl-Elektroden) bekommen oder in warmen Erdtönen leuchten. Im Werk Kirschners glaubt man, geschriebene Zeilen zu entdecken, Zeilen aus einer imaginären Buch-Seite. In der Jubiläumsausstellung zeigt Kirschen sechs Arbeiten, darunter drei Skulpturen, die er 2024 realisiert hat.
Der in Karlsruhe lebende chinesische Künstler Guang Yao Wu ist für seine individuelle Bildsprache bekannt geworden, die er in Auseinandersetzung mit Grundprinzipien des ›Konstruktivismus‹ und der ›Minimal Art‹ entwickelt hat und mit der Vorstellungswelt der chinesischen Kultur zusammenführt. Wu studierte in Shanghai an der School of Art und in der Akademie in Peking. 1989 kam er nach der gewaltigen Unterdrückung des friedlichen Studenten-Protests in Peking mit einem DDR-Interflug über Ostberlin nach Deutschland. Die Struktur eines Bildes geht in seinem Werk vom einzelnen Punkt aus. Der Punkt als Tropfen, als Ellipse, als Mikrophonhülle, als Kreis. Der Punkt als Grundelement einer Struktur, die durch ein strenges Verfahren entsteht, aber den Betrachter Blick von Festlegungen befreit. Ein wunderbares Beispiel seines Schaffens ist die ausgestellte Tusche auf Bütten (120 x 80 cm) aus dem Jahr 1995.
Philipp Neßler studierte mit seiner Kollegin Julia Seifried Bildhauerei bei Prof. Martin Schwenk in Mainz. Inzwischen leben und studieren beide an der Kunstakademie Düsseldorf. Für die Jubiläumsausstellung haben sie das Fragment realisiert. Während einer Reise in der Schweiz fuhr das Künstler-Duo durch den 17 km langen Gotthard-Tunnel und stellte fest, wie wenig man sich als Reisender mit der Struktur und den Details eines Tunnels beschäftigt. Man nimmt keine Besonderheiten wahr, nur die durchgezogene Linie in der Mitte der Straße. In ihrem Werk arbeiten Neßler und Seifried ein aufs Essentielle reduziertes Fragment der Struktur eines Tunnels heraus, befreien und fixieren dadurch auch einen einzelnen Augenblick der schnell vergehenden Reise. Sie öffnen die bedrückende kreisförmige Betonstruktur und kreieren ein minimalistisch anmutendes Werk.
Der 29-jährige chinesische Künstler Jiaqing Li war zum ersten Mal im Sommer 2023 in der Cadoro im Rahmen der Veranstaltung Experimente V vertreten. Jiaqing Li, der aus Shenzhen stammt, lebt seit einigen Jahren in Frankfurt und ist Meisterschüler an der Kunsthochschule in Mainz. Seine Werke weisen Elemente der Konstruktiven Kunst auf, basieren aber auf ganz neuen, bisher noch nie gesehenen und immer anders erscheinenden Formen und Modulen, die der Künstler mithilfe einer 3D-Software zuerst virtuell entwickelt und danach mit einem 3D-Drucker herstellt. Obwohl seine Werke ihre Eigenschaften der Strenge einer präzisen und logischen Struktur verdanken, wird die persönliche Auseinandersetzung des Betrachters mit dem Werk in den Mittelpunkt gestellt und von jeglicher Botschaft befreit. Für die Jubiläumsausstellung hat Jiaqing Li drei Werke realisiert: Code 9483 (Harzdruck, rostfreie Schrauben), Code 6154 (Harzdruck, PLA-Kunststoff, rostfreie Schrauben) und Code 1391 (Harzdruck, PLA-Kunststoff, rostfreie Schrauben).
Es gibt viel zu entdecken in unserer Ausstellung Visions of Beauty und nach unseren Künstlergespräch sehen Sie einige Werke vielleicht mit anderen Augen. Besuchen Sie in jedem Fall die Cadoro. Visions of Beauty ist bis zum 12. Februar 2025 verlängert.